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Wohnen in Gemeinschaft

Beispiele

Begriffe wie Schlafen, Körperpflege, das Zusammensein mit vertrauten Menschen (oft die Familie), der Austausch von Zärtlichkeit, Sexualität, aber auch ganz praktische Dinge, wie das Aufbewahren persönlicher Gegenstände und die private Haushaltsführung werden im westlichen Kulturkreis im Allgemeinen mit dem Wohnen verbunden. Dieser Begriff des Wohnens hat seine Wurzeln im Aufkommen des Bürgertums im 19. Jahrhundert, die in der Wohnung und Familie den Rückzugsort und Intimbereich sahen. Seit dieser Zeit war jedoch das Wechselspiel zwischen “Innen” und “Außen”, “dem Einzelnen und der Gesellschaft” immer wieder auch kontroverses Thema des gesellschaftlichen Diskurses. Dadurch entstanden im 20. Jahrhundert im Gegensatz zur bürgerlichen Wohnform zahlreiche andere, welche die Grenze zwischen “öffentlich” und “privat” ganz unterschiedlich auffassten und praktizierten.

Eine der wohl bekanntesten kollektiven Wohnformen ist die sogenannte “Kommunalka”. Das Aufkommen dieser heute noch in vielen russischen Städten vorhandenen Gemeinschaftswohnung reicht zurück bis zur Oktoberrevolution von 1917. Mit der Einführung wollte die Politik die baulichen Bestände der “Bourgeoisie” für die gemeinschaftliche Nutzung “umprogrammieren”. Bei der Konzeption der “Kommunalkas”, die von Einzelpersonen bis zu ganzen Familien genutzt werden sollten, hat man bestimmte Einrichtungen, u.a. Sanitäranlagen und Küchen zusammengelegt und die restlichen Zimmer (oft zehn bis zwanzig Einheiten) als jeweils eine Wohnung en miniature vorgesehen. Neben der beschriebenen Transformation bestehender Wohneinheiten, sind auch ganze Neubauten kollektiver Wohnhäuser entstanden. Ein richtungsweisendes Gebäude für den sowjetischen Konstruktivismus ist das Kommunehaus Narkomfin, welches zwischen 1928 und 1932 unter dem staatlich geförderten Experimentalbauprogramm von den Architekten Moisei Ginzburg und Ingnatij Milinis errichtet wurde. Auch in diesem Haus waren Wohnungstypen mit „minimaler Individual- und maximaler Gemeinschaftsfläche“ angelegt.

Ein anderes Beispiel kollektiven Wohnens ist das 1935 in Stockholm fertiggestellte Kollektivhuset. Es wird heute als die erste europäische WG betrachtet. Einigen gilt das Leben und die Nutzung der fünfzig Wohnungen auf sechs Stockwerken, einer zentralen Küche, Essensaufzügen, Abwurfkanälen für Schmutzwäsche und Kinderbetreuung für alle auch heute noch als der verwirklichte Traum vom kollektiven Wohnen, vom klassenlosen Zusammenleben, von zwangloser Sexualität und gemeinsamer Kindererziehung. Ein zentrales Anliegen dieses Versuchs eines “modernen” Lebens, war die Ermöglichung der produktiven Erwerbstätigkeit aller erwachsenen Bewohner.

Bekannteste deutsche Wohngemeinschaft ist die Kommune I, die Ende der 60er Jahre in West-Berlin ein politisch motiviertes Gegenmodell zur bürgerlichen Kleinfamilie erprobte. Diese und andere Versuche spielten eine entscheidende Rolle bei der Etablierung der heutigen WGs. Neben ökonomischen Gründen des Zusammenlebens („Zweck-WG“) finden sich auch aktuell Beispiele, in denen gemeinsame Unternehmungen und die Gemeinschaft der Mitbewohner im Vordergrund stehen. Auch gibt es fast in jeder Stadt kleinere und größere Wohnprojekte, die explizit bestrebt sind, im eigenen Wohnumfeld neue soziale und ökonomische Strukturen zu etablieren. Ein jüngeres Beispiel gemeinschaftlich genutzter Wohn- und Lebensräume ist die Sargfabrik in Wien. Diese entstand 1996 mit dem Ziel eines offenen und selbstdefinierten Zusammenlebens. Gebaut und organisiert wurde das Projekt durch einen gemeinnützigen Verein nach dem Prinzip eines "Dorfes in der Stadt". Es beinhaltete ein Kinderhaus, Badehaus, Restaurant, Spielplatz, Veranstaltungssaal und Seminarraum, Gemeinschaftshöfe und einen Dachgarten. So ist die Sargfabrik mit ihren kulturellen und sozialen Einrichtungen heute ein gutes Beispiel für einen Ort der Begegnung von Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft geworden – und zwar über die Bewohnerschaft hinaus.

Autoren: Mathias Schnell und Sarah Asseel

Wohnheim Hans Scharoun