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Das Einküchenhaus

Zentralisierung der Hauswirtschaft

Die Idee des Einküchenhauses geht zurück auf die Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Lily Braun (1865-1916). Sie hielt 1901 in Berlin einen Vortrag vor ArbeiterInnen zum Thema „Frauenarbeit und Hauswirtschaft“, in dem sie das Konzept des Einküchenhauses, der „Haushaltsgesellschaft“ oder „Haushaltsgenossenschaft“ vorstellte.

Das Einküchenhaus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein explizites Gegenmodell zu der im üblichen Wohnungsbau angelegten Etablierung der isolierten Kleinfamilie. Die zumeist erwerbstätigen Frauen sollten durch die Abschaffung der Wirtschaftsräume in den einzelnen Wohnungen und die Einrichtung von zentralen Küchen und Waschräumen innerhalb eines Mehrparteienhauses entlastet und so von der Hausarbeit befreit werden. Diese sollten zu diesem Zweck nicht von den Bewohnerinnen selbst, sondern von eigens dafür vorgesehenem Hauspersonal betrieben werden.
„In den Arbeitervierteln sollte jede Mietskaserne mit einer Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert. In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften müsste der Anfang damit gemacht werden“. (aus den Memoiren von Lilly Braun)
Finanziert werden sollte das Personal durch effizienteres Wirtschaften, wie beispielsweise durch Einsparungen bei Großeinkäufen. Die Einküchenhäuser waren meist technisch modern ausgestattet. So waren beispielsweise die meist im Keller oder Erdgeschoß liegenden zentralen Versorgungseinheiten mit den einzelnen Wohnungen durch einen Speiseaufzug und ein Haustelefon verbunden. Zudem verfügten viele über zentrale Gemeinschaftsräume und zahlreiche Gemeinschafts- und Dienstleistungsangebote, wie Bibliotheken, Läden oder Kinderkrippen und Kinderhorte, was den Comfort erhöhen sollte.

Ein anschauliches Beispiel sind zwei Einküchenhäuser in Berlin Friedenau und Lichterfelde, die 1908/09 gebaut wurden. Diese wurden von der 1908 in Berlin auf privatwirtschaftlicher Basis gegründeten Einküchenhausgesellschaft der Berliner Vororte mbH errichtet. Neben der für die Einküchenhäuser typischen Raum- und Dienstleistungsstruktur zeigt dieser Versuch mit seinen umfangreichen Angeboten und Gemeinschaftseinrichtungen auch die Vielfalt an Möglichkeiten und Synergien, die diese Wohnform bietet.
Die beiden Anlagen bestanden aus zusammen fünf Häuserkomplexen mit jeweils 75 Wohnungen von zwei bis sieben Zimmern und waren mit Zentralheizung, Warmwasser und Haustelefon insgesamt schon recht modern ausgestattet. Eine technische Besonderheit bildete die hausinterne Vakuumreinigungsanlage, an die jede Wohnung angeschlossen war. Auch die Räumlichkeiten waren großzügig und boten den Bewohnern viele interessante Möglichkeiten. Ihnen standen ein Garten, ein Turnraum mit Geräten, Speicherraum für überschüssige Möbel, Mottenkammern, Fahrradkammern und pro Häuserkomplex ein Kindergarten zur Verfügung. Sogar Dunkelkammern für Amateurfotografen standen zur Benutzung bereit. Es gab Dachterrassen zum Sonnenbaden mit angrenzenden Duschräumen und eine größere möblierte Dachterrasse, auf der zusammen gegessen werden konnte und die durch einen Speiseaufzug mit der Küche verbunden war. Ein gemeinsamer Speisesaal war in diesem Fall nicht vorhanden. Die Mahlzeiten erhielten die Bewohner auch in ihre Wohnungen durch Bestellung bei der Zentralküche über einen Speiseaufzug. Hier konnten auch Getränke in reichlicher Auswahl und günstiger als im Laden bestellt werden.
Das Putzen der Wohnung sollte durch den Anschluss jedes Zimmers an die zentrale Staubsaugeranlage von jedem Mieter selbst besorgt werden können. Diese Arbeiten konnten aber auch gegen Entgelt vom Hauspersonal mit übernommen werden, ebenso die Reinigung von Kleidern und Stiefeln. Die Besorgung der Wäsche, Flick- und Näharbeiten wurde in der hausinternen Waschküche vom Hauspersonal erledigt, wobei die Bewohner die Räume aber auch jederzeit selbst nutzen konnten.
Durch die Gestaltung und die umfangreichen Angebote waren die beiden Häuser sehr beliebt und bereits vor der Fertigstellung fast komplett vermietet. Allerdings geriet die Gesellschaft selbst noch vor Fertigstellung der Häuser in finanzielle Schwierigkeiten und ging kurz nach der Eröffnung Konkurs. Die Gründe hierfür sind unklar, zum einen soll die Unerfahrenheit der Leitung und Probleme in der Finanzierung und Organisation, andererseits aber auch das Personal und die Bewohner, die sich nicht an die Lebensführung der neuen Wohnform angepasst hatten, dabei eine Rolle gespielt haben.

Allgemein lässt sich sagen, dass Einküchenhäuser bis in die 1950er Jahre hinein immer noch vereinzelt und sehr unterschiedlich in verschiedenen europäischen Großstädten umgesetzt wurden. In der Praxis funktionierten sie jedoch aus den verschiedensten Gründen oft nicht, was im Laufe der Zeit dazu führte, dass die einzelnen Wohnungen dann doch mit eigenen Küchen ausgestattet und die Gemeinschaftsräume anderweitig vermietet oder von den Bewohnern anders genutzt wurden.

Broschüre der Einküchenhaus Gesellschaft Berlin, 1908

Einküchenhaus Kopenhagen, Speiseaufzug, 1907

Einküchenhaus Kopenhagen

Einküchenhaus Berlin Lichterfelde, Wohnzimmer

Einküchenhaus Berlin Lichterfelde, Grundriss